Vorwort des Herausgebers Jakob Johannes Koch
Zeit für den Inklusions-Check
In diesem Buch wird erstmals „Inklusive Kulturpolitik“ in ihrer Gesamtthematik diskutiert. Aus unterschiedlichsten Perspektiven wird hinterfragt, welches Bewusstsein und welche Maßnahmen die aktuelle
Kulturpolitik entwickelt hat, um den Anforderungen an eine inklusive Gesellschaft nachzukommen – ja, sie mit ihrem kreativen Potenzial und ihren Möglichkeiten sogar maßgeblich zu befördern. Denn
kulturelle Vielfalt ist eine Tatsache unserer modernen Gesellschaft, mit der sie sich intensiv auseinandersetzen und entsprechende Rahmenbedingungen schaffen muss.
In Deutschland leben 18 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen. Viele von ihnen sind als Künstler*innen tätig oder besuchen gerne Museen, Konzerte, Theater sowie
andere kulturelle Veranstaltungen. Zeit also für den Inklusions-Check: Wie inklusiv ist die deutsche Kulturlandschaft? Und wie inklusiv ist die Kulturpolitik in Deutschland?
Näherhin geht das Buch folgenden Fragen nach: Wie barrierefrei sind unsere Kultureinrichtungen? Wie zugänglich ist der Kunstgenuss für alle? Wie selbstverständlich
werden Menschen mit Beeinträchtigungen in Kunst- und Kulturproduktionen eingeladen und eingebunden? In welchen Führungspositionen sind sie im Kulturbetrieb oder in Gremien zu finden? Wie steht es um
die Barrieren in den Köpfen von Verantwortlichen und Entscheidern im Kulturbetrieb?
Inklusion in der Kultur: Fehlanzeige?
In den Beiträgen des Buchs wird deutlich: Konzert-, Theater-, Kino- oder Ausstellungsbesucher*innen mit Behinderungen erleben noch immer, dass man vielerorts nicht ihnen rechnet, sie auf teils
unüberwindliche Barrieren stoßen oder sogar unerwünscht sind. Ähnliche Erfahrungen machen auch die aktiven Kunst- und Kulturschaffenden mit Behinderung – Inklusion in der Kultur: Fehlanzeige?
Um Zugänge zu öffnen und das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen im Kulturbetrieb zu schärfen, ist ein starker Zwischenruf vonnöten. In dem Buch stellen 15 namhafte Expert*innen Faktenwissen und Erfahrungen zu dem Thema bereit, analysieren Hintergründe, zeigen konkrete Lösungsperspektiven auf und formulieren kulturpolitische Forderungen.
Der erste Teil des Buchs („Grundlegungen einer inklusiven Kulturpolitik“) zeigt auf, dass Inklusion ein hochbedeutsames, aber in der Kulturpolitik sowie in den Künsten bislang weitgehend unbearbeitetes Thema ist. Was sind die Gründe?
Im zweiten Teil („Kunst von Menschen mit Behinderung“) wurde erstmals ein historisch durchgehender Abriss der letzten 2000 Jahre erarbeitet mit dem Fokus auf die
jeweilige Situation von Künstler*innen mit Behinderung. Haben wir aus der Geschichte gelernt?
Ferner geht es um eine kritische Auseinandersetzung über Vielfalt und Qualität der Kunstproduktion von Menschen mit Behinderungen.
Der dritte Teil („Ganzheitliche Barrierefreiheit in Kunst und Kultur“) zeigt die besonderen Bedürfnisse eines Kulturpublikums mit Behinderung auf und erörtert die Möglichkeiten eines zielgruppengerechten, nicht nur physisch, sondern ganzheitlich barrierefreien Zugangs zu allen Kulturangeboten. Welche Hürden existieren? Und wie steht es um Unsicherheiten, um die Barrieren und Vorurteile im gemeinsamen Umgang?
Der letzte Teil („Ich bin Künstler und ich habe eine Behinderung“) stellt in Interview-Form die Sicht dreier prominenter Künstler aus unterschiedlichen Kunstsparten dar. Aus ihrer Insider-Perspektive und ihren ganz persönlichen Erfahrungen werden die vorangegangenen theoretischen Fragestellungen und Überlegungen nochmals biografisch-exemplarisch abgeglichen. Wo stehen wir aus Sicht von Kunstschaffenden mit Behinderung, die im Kulturbetrieb angekommen sind?
Verschläft der Kulturbetrieb die Veränderungen?
Der vorliegende Band wirft einen Stein ins Wasser, ist ein Anfang und hoffentlich ein spannender Impuls, der weite Kreise ziehen wird. Er richtet erstmals den Scheinwerfer auf ein Thema, dem weit mehr Beachtung gebührt und das zukünftig stets mitgedacht werden muss. Wenn Kulturpolitik sich nicht inklusiv ausrichtet, werden Kunst und Kultur in ihren Elfenbeintürmen verhungern und ihr Publikum zunehmend verlieren, denn die Welt da draußen, die des Publikums ist mittlerweile eine ganz andere, sie hat sich verändert. Sie ist divers und das Publikum vielfältig, anspruchsvoll und selbstbewusst.
Um einen weiteren Impuls ganz praktischer Art zu geben, wurde jeder Buchartikel mit einem anschließenden Glossar-Angebot versehen. Es handelt sich dabei um eine
Sammlung möglicherweise erklärungsbedürftiger Wörter und Ausdrücke, die Bildungsbarrieren abbauen, das Lesen und Erfassen angenehmer gestalten sowie ein eindeutiges Verständnis sichern sollen. Dabei
liegt das Sprachniveau über der klassischen Leichten oder einfachen Sprache.
Berücksichtigt wurden unterschiedliche Zielgruppen: nicht nur Menschen mit nicht akademischem Bildungshintergrund oder Leseschwächen, sondern auch Leser*innen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist
oder die keiner fremden Sprache mächtig sind sowie Interessierte, die sich bisher nicht mit dem vorliegenden Thema beschäftigt haben.
Erklärend sei noch erwähnt, dass die Bezeichnungen und gewählten Begrifflichkeiten der Autor*innen für Arten und Formen von Behinderung und Beeinträchtigung so vielfältig und unterschiedlich sind wie die Formen von Beeinträchtigungen an sich, die das Leben bereithält. Deshalb gab es keine Vorgaben für die Autoren und sind die unterschiedlichen Bezeichnungen für Menschen mit Behinderung im vorliegenden Buch bewusst nicht aneinander angepasst.
Danksagung
Eine der schönsten Aufgaben eines Herausgebers ist es, Dank zu sagen: Der gilt zunächst Ulla Schmidt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, die mit ihrem Geleitwort den Stellenwert des Themas
unterstreicht. Sodann natürlich den zwölf Autor*innen sowie den drei Interviewpartnern für ihre inspirierenden Beiträge, der Franz-und-Rosa-Eben-Stiftung für die großzügige Förderung der Drucklegung
und des Glossar-Angebots, der Lektorin Dr. Christine Hober für die konstruktive Begleitung, den Inklusions-Expert*innen Markus Tolksdorf und Bea Gellhorn für ihre ebenso geduldige wie fundierte
Sparring-Partnerschaft sowie Cornelia Bartels für ihren „Röntgen-Blick“ beim Korrekturlesen.
In diesem Sinne freut sich der Herausgeber gemeinsam mit den Autor*innen und Interviewpartnern auf eine fruchtbare Resonanz auf dieses Buch: Möge es viele und vieles bewegen! Die Leser*innen sind herzlich eingeladen, auf der Webpräsenz www.inklusive-kulturpolitik.de ihre Gedanken und Ideen beizusteuern. Neue und spannende Aspekte zum Thema werden laufend ergänzt, so dass sich ein Besuch immer wieder lohnt.
Geleitwort
Ulla Schmidt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
Vorwort des Herausgebers
Teil I: Grundlegung einer inklusiven Kulturpolitik
Wie hast duʼs mit der Inklusion?
Grundlegung einer inklusiven Kulturpolitik
Kunst und Kultur im Kontext der Inklusionsdebatte
Gleichberechtigte Teilhabe und -teilnahme am Kulturbetrieb
Behinderung und Krankheit als Stigma?
Zur Ambivalenz von Kategorisierungen normabweichender Kunst und Kultur
Thomas Noetzel und Jörg Probst
Teil II: Kunst von Menschen mit Behinderung
„Es würde etwas Unverwechselbares fehlen!“
Kunst von Menschen mit Behinderung von der Antike bis heute
Mit der Psychose flirten
Künstler am Rand, abseits der Norm
Kunst im toten Winkel?
Warum Kunst von Menschen mit Behinderung mehr Aufmerksamkeit verdient
Nichts ist langweiliger als Normalität
Chancengleichheit für behinderte Künstler, denn normale Künstler gibt es sowieso nicht
Teil III: Ganzheitliche Barrierefreiheit in Kunst und Kultur
Kostbarkeiten zu verzollen?
Kulturelle Teilhabe und Inklusion
Die unsichtbaren Seiten der Kunst
Was Teilhabe an Kunst uns von uns selbst und anderen mitteilen kann
Siegfried Heinz Xaver Saerberg
Inklusion – sind wirklich alle gemeint?
Teilhabe an Kultur von Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen
Wo liegen für Menschen mit Behinderung die Hürden zu kultureller Teilhabe und wie können diese überwunden werden?
Ein Praxisbericht am Beispiel Köln
Teil IV: „Ich bin Künstler und ich habe eine Behinderung“
Peter Radtke, Schauspieler und Publizist
Axel Brauns, Schriftsteller und Filmemacher
Benedikt Lika, Dirigent und Politiker